
2022 war für mich ein gutes Lesejahr. Ich habe außergewöhnlich viele Bücher gelesen, die mich auf besondere Weise geprägt, berührt, inspiriert oder irritiert haben. In diesem Beitrag gehe ich meine Liste und Notizen durch und wähle die folgenden Titel aus, die mir aus unterschiedlichen Gründen eine besondere Leseerfahrung waren. Die Reihenfolge bedeutet keine Priorisierung, sondern ist fast willkürlich:
- Björn Nölte und Philippe Wampfler: Eine Schule ohne Noten
- Sascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation
- Stefan Bergheim: Zukünfte. Offen für Vielfalt. Das Handbuch für den klugen Umgang mit dem Später
- Kai Matthiesen, Judith Muster, Peter Laudenbach: Die Humanisierung der Organisation
- Edgar Cabanas, Eva Illouz: Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht
- Legacy Russell: Glitch Feminismus
- Omri Boehm: Radikaler Universalismus
- Michel Houellebecq: Vernichten
- Kim De l’Horizon: Blutbuch
- Annie Ernaux: Das Ereignis
- Raoul Vaneigem: Das Buch der Lüste
- Peter Stamm: Wenn es dunkel wird
Björn Nölte und Philippe Wampfler: Eine Schule ohne Noten

Ein Buch, das ich im Dezember 2021 begann und in den ersten Tagen von 2022 fertig las. Damals wurde es auf Twitter und LinkedIn allenthalben erwähnt … und ich schließe mich den vielen Empfehlungen überzeugt an. Das Buch hat meine kritische Sicht gegenüber individuellen Bewertungs- und Belohnungs-Schemata verfestigt und mit bedenkenswerten Alternativansätzen bereichert. Die beiden Autoren beschreiben, wie Schulnoten als ungenaue, unfaire und subjektive Bewertungssysteme demotivieren und das Lernen behindern.
Sie erläutern die Gründe und beschreiben, wie sich der Lernprozess generell ändern sollte: begleitend, dialogisch, portfoliogestützt. Noten legen falsche Anreize und behindern dadurch Lernen. Verfestigte Mythen rund um Noten werden mit Gegenargumenten widerlegt.
„Die Konditionierung mit Noten ist es, die einer Begründung bedarf. Weshalb sollten Lernende verglichen werden? Weshalb wird ein Zahlensystem eingeführt, das ungenau und unfair ist? Weshalb werden Lehrende gezwungen, sich Lernenden gegenüber in die Rolle von Beurteilenden zu begeben? Wie kommt es, dass sich Eltern an künstlichen Bewertungssystemen orientieren, statt daran, was ein Kind kann und lernt?“
Nölte, Björn ; Wampfler, Philippe: Eine Schule ohne Noten : neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung. Bern: hep verlag, 2021.
Ich hatte mir nach dem Lesen vorgenommen, meine Lektüre-Erkenntnisse auf betriebliches Lernen zu übertragen. Ein entsprechender Blog-Beitrag steht aber noch aus. Insbesondere die Idee von Lern-Artefakten als Resultat eines gemeinsamen Lernprozesses und Domain of One’s Own scheinen mir hier lohnenswert für eine weitere Arbeit.
Das Buch hat mich auf ein weiteres Buch aufmerksam gemacht, das ich unbedingt noch lesen möchte: „Die Erfindung der Leistung“ von Nina Verheyen (hier ein Artikel dazu von Wolfgang M. Schmitt im Neuen Deutschland).
Außerdem habe ich im Februar 2022, durch das Buch und die Arbeit seiner Autoren neugierig geworden, am Barcamp für zeitgemäße Prüfungskultur teilgegeben und bin so auf viele Initiativen engagierter Lehrer:innen aufmerksam geworden, die Lernen in der Schule besser gestalten. Angeregt durch Lektüre und Barcamp habe ich mich mit vielen Akteur:innen aus diesem Bereich vernetzt.
Ein handlungsanregendes Buch und meine unbedingte Leseempfehlung für eine Neubetrachtung von organisational geprägtem Lernen!
(Als Abschweifung erlaube ich mir in diesem Zusammenhang, die Wikimedia-Konzeptstudie „Werte und Strukturen der Nationalen Bildungsplattform“ zu erwähnen, die für mich eine ähnlich grundlegende und wertvolle Betrachtung darüber ist, was Lernen und Bildung sein könnten und wie prägend/formend/leitend die zugrundeliegenden Strukturen von Bildungsangeboten sind, ob nun in Form von numerischen Bewertungsskalen oder als technische Infrastrukturen. Ich beschränke mich in diesem Beitrag auf physisch gelesene Bücher, aber würde ich auch Studien und Artikel mit aufnehmen: Die Wikimedia-Studie wäre dabei!)
Sascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation

Auch diesem Buch konnte ich in meiner Twitter-Timeline kaum entkommen. Ein schmales, gut gegliedertes Bändchen, dass viele Glaubenssätze der Digitalwirtschaft gegen den Strich bürstet. Kritisch bis nahezu ‚meckrig‘ war mir die Lektüre genau deshalb eine Freude. Vielen Aussagen stimme ich in ihrer Polemik nicht zu, aber gerade deshalb ist die Lektüre so erfrischend und bereichernd für Menschen wie mich, die dem Transformations-Spektakel auf LinkedIn und vielen Konferenzen müde sind.
Es dauerte einige Zeit, bis ich die Thesen der Autor:innen verdaut, das Buch dabei zweimal gelesen und dessen Kernaussaugen in einem eigenen Blogbeitrag hier zusammengefasst hatte.
Stefan Bergheim: Zukünfte. Offen für Vielfalt. Das Handbuch für den klugen Umgang mit dem Später

Ein Buch, das ich stellvertretend für ein für mich neues Themenfeld nenne, in das ich 2022 eingetaucht bin: Zukünfteforschung bzw. Futures Literacy.
In drei Kapiteln führt Stefan Bergheim zunächst in das Feld der Zukünfteforschung ein, stellt im zentralen und besonders empfehlenswerten Kapitel dann verschiedene Werkzeuge/Methoden vor und schließt im dritten Kapitel mit Praxisberichten aus seiner Arbeit.
Das Buch hat mir nicht nur den willkommenen Anlass gegeben, mir einen Überblick über die Vielzahl an Ansätzen in der Disziplin zu verschaffen und mich in ausgewählte zu vertiefen, sondern auch meine eigene Haltung gegenüber meiner Beratungstätigkeit verändert. Bisher hatte ich den Anspruch, mit meinen Kund:innen Ideen und konkrete Handlungsoptionen für einen überschaubaren zukünftigen Zeitraum zu entwickeln (z. B. die nächsten drei Jahre). Durch die Beschäftigung mit Zukünfteforschung habe ich erkannt, dass ich damit Limitierungen setze, die teilweise sinnvoll sind, teilweise aber eine offenere, kreativere oder wertegeleitete Auseinandersetzung verhindern. Deshalb möchte ich in Beratungsprojekten zukünftig häufiger fragen: Welche alternativen Entwicklungen könnten passieren? Welche Signale sind heute schon wahrzunehmen, die in alternative Zukünfte weisen?
„[Die Zukünftebildung] bietet Räume für Emergenz in komplexen Systemen. So vergrößert sich zweitens das System der Sensoren, mit denen wir neuen Informationen aufnehmen. Dadurch können wir Ereignisse mitbekommen, die wir sonst nicht wahrgenommen hätten. Neue Indikatoren werden erarbeitet, neue Wege der Informationsbeschaffung angegangen. Die Wahrnehmungskraft nimmt zu, auch für das, was wir loslassen können. Drittens nimmt das Verständnis heutiger Systeme und Themen zu, wenn man durch die Zukunftsbrille auf sie schaut. Zusammenhänge werden sichtbar zwischen Menschen und zwischen Themen. Ebenso tieferliegende Ursachen aktueller Herausforderungen und viele im System verteilte Aktivitäten und Projekte in der Gegenwart.“
Bergheim, Stefan: Zukünfte – Offen für Vielfalt : Das Handbuch für den klugen Umgang mit dem Später. Hamburg: epubli, 2020, S. 184
Meiner Beschäftigung mit dem Thema und dem Buch habe ich ebenfalls in einem ausführlichen Beitrag mit vielen Quellenverweisen verarbeitet.
Außerdem haben Stefan, meine Kolleg:innen und ich dem Thema eine Online-Veranstaltung gewidmet: Die Open Fridays for Learning über „Zukünfte des Lernens in Unternehmen“. Eine #Lernlust-Podcast-Episode, in der wir die Erkenntnisse aus dieser Veranstaltung mit Stefan weiter vertiefen, folgt in 2023. Mein Tor zur Futures Literacy hat sich also gerade erst geöffnet …
Kai Matthiesen, Judith Muster, Peter Laudenbach: Die Humanisierung der Organisation

Ich bin mir sicher: Über kein Buch habe ich in 2022 mehr gesprochen. Wenn ich in diesem Jahr nur ein Buch wählen dürfte (glücklicherweise nicht!), dann wäre es dieses. Durch die Lektüre hat sich meine Sicht auf Arbeit in Organisationen deutlich verändert, teilweise auf den Kopf gestellt.
„Je weniger ein Unternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als »ganze Menschen« adressiert, desto besser für die Mitarbeiter (als Menschen wie als Mitarbeiter).“
Matthiesen, Kai ; Muster, Judith ; Laudenbach, Peter: Die Humanisierung der Organisation : Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. München: Franz Vahlen, 2022; S. 9
Ich lese zwar schon längere Zeit mal hier, mal dort organisationssoziologisch und systemtheoretisch geprägte Artikel, höre Podcasts und habe auch einige Bücher im Regal stehen (… die wenigsten habe ich gelesen), aber einen Zugang, der sich wirklich kohärent für mich anfühlt, habe ich jetzt endlich mit „Die Humanisierung der Organisation“ erhalten. Zu kaum einem Buch habe ich für meine Notizen mehr Zitate gescannt und zugleich weniger paraphrasiert, weil ich beim Lesen das Gefühl hatte, die Sätze genau so stehen lassen zu wollen, wie sie die Autor:innen in das Buch geschrieben haben. (Kaum nötig, zu erwähnen, dass das Buch auch in Gestaltung und Haptik ein Juwel ist und sich deshalb unbedingt der Erwerb der Printausgabe lohnt.)
Vielen Mitlesenden ging es wohl ähnlich wie mir, denn bis heute taucht das Buch beständig als Empfehlung in meiner LinkedIn-Timeline auf … und dankenswerterweise sind die Autor:innen sehr diskursfreudig und führen die Einladung zur Auseinandersetzung mit ihren Aussagen auch 2023 in Events und Podcasts fort (ich habe mich z. B. bereits für das Online-Symposium „Das begehbare Buch“ am 25. Januar 2023 angemeldet).
Meine Notizen habe ich in diesem Beitrag zusammengetragen.
Viele weitere Stimmen und Verweise zu Rezensionen finden sich im Versus-Magazin.
Mittlerweile haben auch viele meiner direkten Kolleg:innen das Buch gelesen und ich bin gespannt, wie die Erkenntnisse darauf unsere Zusammenarbeit prägen werden.
Das Buch hat mir Mut gemacht, mich im nächsten Schritt auch mit dem ‚Vorbild‘ und Referenzwerk von Niklas Luhmann zu beschäftigen: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Gemäß einer Podcast-Aussage von Stefan Kühl reichen dafür „vier Wochen im Urlaub“. Ob ich die schon 2023 finden werde …?
Edgar Cabanas, Eva Illouz: Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht

Die Wahl dieses Buches war sicher beeinflusst durch das vorherige … aber nicht nur. Notiert hatte ich mir den Titel bereits früher, nachdem ich zu Beginn des Jahres „Ich möchte lieber nicht“ von Juliane Marie Schreiber las. Die Autorin nahm darin oft Bezug auf das Buch von Edgar Cabanas und Eva Illouz – und tatsächlich hat sich die Referenz als die weitaus bessere Lektüre herausgestellt.
Das Buch ist eine Breitseite gegen den neoliberalen Sirenengesang der „positiven Psychologie“ und „Glücksforschung“ und wie er Menschen paternalisiert, bewertet, ausbeutet, krank macht und in Vereinzelung treibt.
Beeindruckend auch die Fülle an Querverweisen und Quellen zum Weiterlesen, die ich bei Fach-/Sachbüchern generell sehr schätze. Durch die Möglichkeit, die Quellen weiter zu verfolgen, wird ein Buch für mich zum Lernangebot und -rahmen. Die Intensität der weiteren Beschäftigung mit dem Thema liegt dann bei mir. „Das Glücksdiktat“ hat mir diesen Rahmen aufgespannt und mich zu einer vertieften und oft lustvoll polemischen Auseinandersetzung mit LinkedIn-befeuertem Selbstoptimierungsgewichse, Resilienz-Übergriffigkeiten, Positive-Psychologie-Heilsversprechen und diesem generellen neoliberalen „Selfleadership“-Gedöhns geführt (gerade jetzt zu Neujahr wieder ganz ganz schlimm da draußen …).
„Gewiss brauchen wir Hoffnung, aber bitte ohne den abstumpfenden, tyrannischen, konformistischen und fast schon religiösen Optimismus, der mit dem Glück einhergeht (…) Wir brauchen eine Form von Hoffnung, die auf kritischer Analyse, sozialer Gerechtigkeit und kollektivem Handeln beruht, die nicht paternalistisch ist, die nicht an unserer Stelle entscheidet, was gut für uns ist, und die nicht versucht, uns das Schlimmste vorzuenthalten, sondern uns in die Lage versetzt, es mit ihm aufzunehmen – nicht als isolierte Individuen, sondern zusammen, als Gesellschaft.
Cabanas, Edgar ; Illouz, Eva: Das Glücksdiktat : und wie es unser Leben beherrscht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019, S. 206f
(…)
Nicht Glück, sondern Erkenntnis und Gerechtigkeit sind unverändert der revolutionäre moralische Sinn unseres Lebens.“
Zurück zu „Ich möchte lieber nicht“: Ich habe dann auch endlich noch die grandiose Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville gelesen, in dem sich der titelgebende Schreibgehilfe Bartleby mit der immer regelmäßiger wiederholten Verweigerung „Ich möchte lieber nicht“ den an ihn gestellten Anforderungen entzieht. So einfach und verlockend es scheint, Bartlebys Satz unter jede dieser schwer erträglichen „Einfach mal machen“ oder „Raus aus der Komfortzone“-Forderung auf LinkedIn zu stellen .. ich glaube, wir eignen uns Bartleby damit zu Unrecht an. Darüber möchte ich aber noch ein bisschen nachdenken … 😉
Legacy Russell: Glitch Feminismus

Endlich mal ein Buch, dass ich rein zufällig beim Stöbern im Buchladen in die Finger bekam und nur wegen seines Titels, Klappentexts und Verlags kaufte, ohne mehr darüber zu wissen.
Was für ein Glücksgriff! „Glitch Feminismus“ von Legacy Russell aus dem Merve-Verlag ist mit das schönste, schärfste und mutmachendste Essay über das Internet als Situations-, Entfaltungs- und Spiel-Raum, Community, Zuhause und Schutz, das ich je gelesen habe!
„Die schräge Romantik des Internet-als-Utopie sollte (…) nicht als naiv abgetan werden. Mit digitalem Material fantasievoll umzugehen, ist keine Retro-Mythologisierung; es bleibt ein Überlebensmechanismus. Das Internet für Spiele, Performances und Erkundungen zu verwenden, hat nach wie vor Potenzial. Uns diesen Experimentierraum offenzuhalten, bringt uns vielleicht dem Entwurf einer »nachhaltigen Zukunft« näher.“
Russell, Legacy: Glitch Feminismus : Ein Manifest. Berlin: Merve Verlag, 2021, S. 27f
Legacy Russell ist Autorin, Kuratorin und Kunsttheoretikerin aus New York und beschreibt in dem Buch ihre eigene Auseinandersetzung, Nutzung und Online-Biografisierung mit dem Internet, verwoben mit digitalkunsttheoretischen und cyberfeministischen Positionen.
„Wenn alle Dämme brechen, ist und bleibt das Internet immer noch ein Versammlungsort für marginalisierte Stimmen und Körper. Tatsächlich ist das Konzept des »wahren Lebens«, wie es in ununterbrochenen Schleifen zwischen on- und offline kursiert, sexistisch, rassistisch, klassistisch, homophob, transphob und ableistisch. Als Glitch-Feministinnen, die neue Gemeinschaften und Welten errichten, müssen wir die Forderung stellen: Sprecht unserer »digitalen Realität« nicht das Leben ab.
Russell, Legacy: Glitch Feminismus : Ein Manifest. Berlin: Merve Verlag, 2021, S. 112
Das Internet bleibt ein extrem intimer Ort, in dem sich das Sein »öffnen« darf und man sich trauen kann, seine Verletzlichkeit zu zeigen. Die virtuellen Räume des Internets bieten Schutz vor körperlicher Gewalt und können in einem fantastischen Forum den Ausdruck von Ideen und politischen Ansichten beherbergen und somit Kollektivität, Koalitionen und den Mut zu individuellen Lebensformen stärken.“
Aus den nur 152 Seiten wachsen rhizomatisch so viele Erfahrungen, Ideen und Forderungen, dass ich mir unmöglich anmaße, sie zusammenzufassen. Jede:r wird den Text mit einer ganz eigenen Brille lesen. Meine Brille als Leser ist eine grundlegend andere als die, die die Autorin für sich beschreibt. Dennoch fühle ich beim Lesen eine fast zärtliche Verbundenheit. Zurück zu meiner eigenen Vergangenheit und Jugend im Internet, hinaus in das Internet, wie es ohne die großen Plattformen ist, ohne Hass sein könnte und in das ich Hoffnung lege.
„Ich habe neue Territorien gefunden, indem ich online geboren und getragen wurde, die frühen Tage, in denen ich als digitaler Orlando flexte, gestaltwandelnd, zeitreisend, Genderfuck wie es mir passte. Ich wurde zu mir selbst, fand meinen Körper, indem ich Glitch wurde, verkörperte.“
Russell, Legacy: Glitch Feminismus : Ein Manifest. Berlin: Merve Verlag, 2021, S. 135
Durch die Lektüre ist auch Donna Haraways „A Cyborg Manifesto“ wieder ganz nach oben auf meinen Lesestapel gewandert … 2023 wird ein gutes Lesejahr! 🙂
Omri Boehm: Radikaler Universalismus

Dieses Buch habe ich fertig gelesen, aber fertig bin ich mit ihm noch lange nicht. Deshalb nehme ich es in diese Liste auf, ohne es bisher empfehlen zu können … weil es mich provoziert hat. Ich bin ratlos, vermute aber stark, dass mir ein erneutes, konzentriertes Lesen ein besseres Verständnis ermöglichen könnte … denn leider las ich es in zwei Teilen mit großer zeitlicher Unterbrechung. Notiz an mich: 2023 noch einmal lesen!
„Es gibt wirklich ein Gesetz, das nicht von Menschen gemacht ist, doch bleibt es fest in menschlichen Händen. Weil Menschen diesem Gesetz verpflichtet sind, hat kein Mensch je das Recht, zu gehorchen.“
Boehm, Omri: Radikaler Universalismus : Jenseits von Identität | Universalismus als rettende Alternative. Berlin: Ullstein Buchverlage, 2022, S. 22f
Dieses Gesetz sei der Universalismus als einer „übergeordneten Autorität absoluter Gerechtigkeit und ihrem Vermögen, über menschliche Interessen, Gesetze und Verfassungen hinauszugehen.“ (S. 29).
Viele von mir sehr geschätzte und mit Vertrauen bedachte Stimmen haben das Buch als eines der großen Highlights 2022 empfohlen. Ich finde viele Passagen bestechend. Leider stellt der Autor nach meiner Lesart eine zentrale These in den Raum (dass es metaphysische, unveräußerliche Menschenrechte gebe, die über allem stehen), beschreibt sie durchaus überzeugend mit Bezugnahme auf Kant, den amerikanischen Bürgerkrieg und die Unabhängigkeitserklärung, die biblische Erzählung von Abraham und Isaak sowie auf Martin Luther King, ohne sie dann aber theoretisch weiter zu begründen oder sich mit Kritik hinreichend auseinanderzusetzen.
Ein Schlüsselsatz des Buches ist nach meiner Lesart:
„Nachdem der Liberalismus die Kantische Idee des Menschen als absolutistisch und metaphysisch ausgemustert hatte, geboten Menschen nicht mehr über die kategorische Würde, die diese Idee beinhaltet. Für die breite Mehrheit, deren Menschlichkeit meist vorausgesetzt wird, mag das in Ordnung gehen. Doch Minderheiten werden so der »Abstraktion« beraubt, die über eine höhere Autorität verfügt als der gesunde Menschenverstand, die gemeinsamen Erfahrungen, Interessen oder konsensuell verabschiedeten legitimen Gesetze der Mehrheit.“
Boehm, Omri: Radikaler Universalismus : Jenseits von Identität | Universalismus als rettende Alternative. Berlin: Ullstein Buchverlage, 2022, S. 99f
Etwas frustriert schrieb ich nach den letzten Seiten auf Mastodon: „Uff, Radikaler Universalismus von Omri Boehm schließt so sehr im Vagen (unfairerweise eine Art ‚Die Antwort findet ihr in einem anderen Buch von mir‘), dass ich jetzt fast daran zweifle, viele Passagen in dem Buch sehr begeistert gelesen zu haben. Natürlich erwarte ich bei dem Diskurs nicht DIE alles klärende Antwort, aber den von Boehm selbst aufgegriffenen Vorwurf einer Leserin, er mache sich nicht die Hände schmutzig, kann er in dem schwachen Epilog m. E. kaum entkräften … 🤔“
Ja, Omri Boehms Konsequenz und Radikalität scheint mir zugleich Stärke und Schwäche des Buchs. Ich vermute, wenn ich es erneut nicht als Diskurs darüber lese, OB es universell gültige Menschenrechte gebe, sondern als intellektuelle und belesene Bestätigung davon, DASS es diese gibt und welche Bedeutung sie für das menschliche Zusammenleben haben, werde ich mehr Freude an der Lektüre haben.
Michel Houellebecq: Vernichten

Trotz aller geteilter Kritik an der Person Michel Houellecq und seinen von Roman zu Roman erneuerten erzreaktionären Gesellschaftsbildern bin ich ein großer Fan seiner Romane. Jedes Mal, wenn ich ein Buch von ihm in die Hand nehme, nehme ich mir vor, es kühler/distanzierter zu lesen, lasse mich dann aber sofort von der Sprache und ergreifenden Atmosphäre, den selten besser und glaubwürdiger als bei Houellebecq ausgearbeiteten Charakteren und den tiefen Sehnsüchten nach … was eigentlich? … einer würdevollen, im Grunde doch sozialen oder einfach nur einer einfachen und überschaubaren Welt? … verzaubern. Auch Vernichten ist für mich ein Werk großer Schönheit, und klänge es, wenn ich das schreibe, nicht ungerechtfertigterweise kitschig und würde das Ende entwerten, würde ich jetzt schreiben, dass ich beim Lesen des Endes geweint habe.
Der Roman tastet sich durch die nur formal und aufgrund der verwendeten Motive bisweilen an einen Thriller angelehnte Handlung. Das Handlungsfeld, das aufgespannt wird, ist zu groß und letztlich auch zu fragmentiert, um es hier zusammenzufassen. Das Geschlechts- und Familienbild ist Houellebecq-typisch, aber kaum ein reaktionäres Statement scheint mir ohne Bruch und zweifelnden Ton. Ich bin mir nicht sicher, was ich in den Text mit dem Wissen hineinlese, dass dies Houellebecqs letzter Roman sein soll, aber viele Stellen klingen, als sei der Roman ‚abschlussmilde‘, versöhnlich und Houellebecq davon erfüllt, zu zeigen, dass es ihm im Grunde immer schon um die Sehnsucht nach gelingender Liebe gegangen sei?
Kim De l’Horizon: Blutbuch

Blutbuch ist weit mehr als Identitätsreflexion oder ein Jonglieren schriftstellerischer Könner:innenschaft. Es ist atemberaubendes Staunen über die Möglichkeiten von Literatur, wie Kim De l’Horizon die Stile und verschiedenen Erzählräume wechselt. So etwas ist nur im Text möglich! Vom Märchen über Pornographie zum botanischen oder biografischen Forschungsbericht, oszillierend zwischen Sprachen, Autor:innenhandschriften und Geschlechtern. So einen Roman habe ich noch nie gelesen!
Annie Ernaux: Das Ereignis

Als im Oktober der Jubel über die Verleihung des Literaturnobelpreises an Annie Ernaux aufklang, stellte ich beschämt fest, dass mir die Autorin bisher nicht präsent war … obwohl Freude und Lob darüber in meiner Literaturbubble einhellig war.
Kurz vor Jahresende las ich „Das Ereignis“ und direkt danach „Das andere Mädchen“. Und alle weiteren Bücher von Anne Ernaux warten bereits in meinem Regal auf die Lektüre.
Ich bin begeistert, wie Annie Ernaux in „Das Ereignis“ die nur oberflächlich nüchterne Schilderung des Wegs zur und durch die Abtreibung, die Suche in der eigenen Biografie, die Kritik gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Verlogenheit und die Reflexion des eigenen Schreibprozesses miteinander verwebt.
Demnächst werde ich mir auch die Verfilmung von Audrey Diwan aus dem Jahr 2021 anschauen. Noch kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dieses Buch verfilmt wurde.
Raoul Vaneigem: Das Buch der Lüste

Ein in vielfacher Weise schwieriges Buch, das ich nicht aus der Hand legen konnte … genauso wenig wie danach Vaneigems aktuelleres „Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben“.
Während meines Studiums, Mitte der 2000er, hatte ich mich in Theorie und Praxis der Künstler rund um die Situationistische Internationale vertieft und mich u. a. auch für meine Diplomarbeit von Guy Debord, Constant oder eben Raoul Vaneigem inspirireren lassen.
Nachdem ich im Studium Vaneigems „Handbuch der Lebenskunst für die junge Generation“ gelesen hatte, war mir erstaunlicherweise entgangen, was der Autor nach seiner Zeit in der Situationistischen Internationale veröffentlicht hatte … aber das hole ich jetzt nach.
Auf „Das Buch der Lüste“ wurde ich durch das geschliffene Vorwort von Hannah Mittelstädt aufmerksam, das ich zufällig irgendwo gelesen hatte … und das noch eingängiger und verständlicher als Vaneigem selbst die radikale Subjektivität, Kreativität und Lust an Körper und Leben feiert und das Spektakel, Ware, Geld, Macht und Intellektualität anklagt. Schon war ich gedanklich wieder tief verstrickt in der situationistischen Psychogeografie (Auswirkungen des Raums auf die menschliche Psyche), des dérive (Umherschweifen), détournement (Zweckentfremdung und Umdeutung z. B. kapitalistischer Symbole und Botschaften) und der récupération (Wiederaneignung des öffentlichen Raums).
„Wenn die Liebe zum Leben mit der Weigerung zu bezahlen anfangen soll, dann soll das endlich in der Universalität des Geschenks geschehen. Dazu genügt allein die Liquidierung des Staates und die Vernichtung der Ware, die ich nicht so sehr in der Wut der Unterdrückten sehe als vielmehr in den Gelegenheiten eines unwiderstehlichen Willens zum Genuss, einer Neigung der Lüste, sich ohne Rückhalt auszubreiten, und des genüsslichen Traums, in dem die Straßen zu Küchen werden, die Paläste sich in Weinkeller und die Kathedralen in Herbergen verwandeln und sich die Landkarten wie Speisekarten lesen.“
Vaneigem, Raoul: Das Buch der Lüste. Edition AV 2022; S. 129
Vaneigems Schreibstil ist eine Zumutung und viele Passagen aus heutiger Sicht schwer zu akzeptieren. Sowohl „Das Buch der Lüste“ als auch „Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben“ lesen sich über weite Strecken wie eine Predigt. Ein zentrales Thema ist die Kostenlosigkeit, und ich bin geneigt, mir viele Passagen als Mittelfinger gegen die Web3/Crypto/Metaverse-Bros anzueignen, die sämtliche menschliche Regungen mit Besitzschild und Pricetag etikettieren.
„In einer Welt, die nur die Kostenlosigkeit absolut verbietet, ist alles erlaubt außer dem Genuß.“
Vaneigem, Raoul: Das Buch der Lüste. Edition AV 2022; S. 29
„Von nun an wollen wir die Kostenlosigkeit des Wissens erleben, das uns aus allen Windrichtungen angeboten wird, im Zufall der Wandzeitungen, im Überfluss der Äußerungen, geschrieben, gesungen, gezeichnet und pantomimisch dargestellt in einer endlich freien individuellen Schöpfung, die mit der unzähmbaren Phantasie ihrer Begierden und Verwandtschaften letzte Hand an die Auflösung der Erziehung und der Information legt.“ (S. 130)
Vaneigem, Raoul: Das Buch der Lüste. Edition AV 2022; S. 130
Vielleicht auch dadurch angetriggert weckt Vaneigem die Lust in mir, mich 2023 wieder mehr mit seinen und den Schriften von Guy Debord auseinanderzusetzen. Debords „Gesellschaft des Spektakels“ habe ich bereits wieder aus dem Regal gezogen. Sie sind so aktuell wie immer.
„Es ist verlogen, ein menschlicheres Verhalten anzumahnen, ohne eine soziale Kollektivität zu schaffen, die imstande ist, den Einfluss der Wirtschaft zurückzudrängen, der sie ihrer Substanz beraubt.
Vaneigem, Raoul: Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben : die Situationisten und die Veränderung der Haltungen. Hamburg: Ed. Nautilus, 2011; S. 165
Der Konsumismus ist ein Pyrrhussieg, dem wir nur entgehen, wenn wir wieder die psychologischen und gesellschaftlichen Strukturen schaffen, in denen die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse der Weiterentwicklung der Menschheit dient. Bildung, Gesundheit, Verkehr, Wohnungsbau, Landwirtschaft und natürliche Energien sind öffentliche Aufgaben, die nicht profitorientiert sein dürfen. Die Tyrannei der Ware werden wir nur dann zerschlagen, wenn wir das wahre Leben überall dort wieder herstellen, wo die Wirtschaft es unterdrückt, vereitelt, verfälscht.
Die Kostenlosigkeit ist unsere einzige Waffe; aber sie ist die absolute Waffe, weil sie nicht zerstört. Millionen von uns besitzen sie, nur sehr wenigen ist dies bewusst, und noch weniger wagen es, sie zu benutzen.“
Peter Stamm: Wenn es dunkel wird

Ich habe gezögert, ob ich dieses Buch in die Liste aufnehme. Denn als ich es las, wollte ich die Tage an Corona erkrankt möglichst energiesparend einfach vor mich hin sitzend und lesend verbringen. Keine sprachlichen und erst recht keine fachliche Überanstrengung. Als ich mein Buchregal durchging, stoppte ich bei Peter Stamm. Überschaubare Erzählungen in direkter und schnörkelfreier Sprache waren mir gerade recht. Ich hatte vor längerer Zeit „Weit über das Land“ und „Sieben Jahre“ gelesen und wage Erinnerungen an klare Sätze, die ein seltsames Leben in Zweifel an der empfundenen Gegenwart aufspannen. Etwas ähnliches, weswegen ich auch Paul Auster, Haruki Murakami oder Markus Werner so gerne lese und mich gleichzeitig darüber wundere … manchmal?
Von den Erzählungen in Peter Stamms „Wenn es dunkel wird“ sind mir nur noch einige in Erinnerung. Die, in der eine Frau zur Statue wird. Ein junger Mann sich in einen Banküberfall imaginiert und ihn gedanklich in allen Facetten durchspielt. Ein verlorener Reisender auf Geheiß einer Lehrerin ein Bild für seine Frau malt. Ein vormals Reicher, der all sein Geld verzockt hat, sich als Robinson in einem Luxushotel verbarrikadiert. Klare, glänzende Ideen, die konsequent, linear, beharrlich, poetisch und mit einem Staunen über die Idee selbst bis zum Ende erzählt werden.
Gleich nach Beendigung des Buchs habe ich alle mir noch fehlenden Bücher von Peter Stamm bestellt und zu Weihnachten seine Weihnachtsgeschichte „Marcia aus Vermont“ gelesen, die mich ähnlich berührte wie die Erzählungen aus „Wenn es dunkel wird“.
Manchmal braucht es Tage, in denen nur langsames Lesen möglich ist.