September 26, 2022

Neulich erwähnte ich in einem Workshop Check-In, dass ich gerade ein Buch mit systemtheoretischem Hintergrund lese, dass mein Verständnis von Organisationen grundlegend erschüttert.
Ein Teilgeber erriet gleich den richtigen Titel: „Die Humanisierung der Organisation. Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert“ der beiden Metaplaner:innen und Organisationssoziolog:innen Kai Matthiesen und Judith Muster und dem Brand Eins Journalisten und Theaterkritiker Peter Laudenbach.
Dass sich durch das Buch nicht nur mein Blick verändert hat, sondern wohl auch Dinge, die ich im Arbeitsalltag von mir gebe, merke ich immer wieder dann, wenn Kolleginnen mir spiegeln, „Du sprichst gerade wieder wie dieses Buch, das Du gelesen hast“. Aber jetzt verbreitet sich das Buch auch bei meinen Kolleg:innen, ich habe es wahrscheinlich wie kein zweites Buch in meine Webcam gehalten und ich freue mich auf die Wirkung, die es auch bei uns im Unternehmen noch erzielen wird … .
Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, beim Lesen des Buches einem virtuellen Lesezirkel beizutreten, denn meine Lektüre wurde durch Twitter- und LinkedIn-Beiträge von Menschen aus meiner Blase begleitet, die das Buch ebenfalls gerade lasen. Ein ähnliches Erlebnis hatte ich vor genau zwei Jahren beim Lesen von „Grasswurzelinitiativen in Unternehmen“ von Sabine und Alexander Kluge, das damals ebenfalls neu erschienen war und sich wie ein Lauffeuer unter den Menschen verbreitete, die meine Timeline bereichern. Der Impuls, den Judith Muster in ihrem erfrischenden Nachwort zum Kluge-Buch sendete, klingt in der heutigen Lektüre ihres eigenen Buches in mir nach … .
Ähnlich organisationssoziologisch-blickerweiternde Momente hatte ich bisher immer wieder nach dem Hören der Podcasts „Der ganz formale Wahnsinn“ mit Stefan Kühl und Andreas Hermwille, Corporate Therapy oder Kurswechsel, aber das Buch „Die Humanisierung der Organisation“ beschreibt das Geschehen und Verhalten in Organisationen für mich so nüchtern, umfassend, argumentativ kohärent und gleichzeitig ‚entlastend‘, dass ich das sicher vermessene Gefühl entwickle, ich hätte ‚verstanden‘ und mir einen ersten Zugang zur organisationssoziologischen Disziplin erlesen. (Wäre interessant, mit dieser Brille auf manche Überzeugungen zurückzublicken, die ich vor nicht allzu langer Zeit noch geäußert habe … Vielleicht gut, dass es LinkedIn und Twitter ja nicht ganz einfach machen, eigene alte Beiträge wiederzufinden 😉
Zugleich ist das Buch auch das erste, über das mir die Arbeit von Niklas Luhmann so verständlich und plausibel nahegebracht wird, dass es mir seltsam scheint, wieso ich nicht schon längst darauf gebracht wurde. Denn die Ideen des Buches basieren, so die Autor:innen, auf „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ von Niklas Luhmann aus dem Jahr 1964. Um dieses Buch bin ich schon öfter herumgeschlichen, aber der Preis von fast 90 EUR, verbunden mit der Erwartung, einen für mich als Luhmann-Anfänger und Nicht-Soziologen vielleicht zu fordernden Text zu erhalten, hatten mich bisher von Kauf und Lektüre abgehalten. Mittlerweile liegt auch dieses Buch auf meinem Stapel, aber wann ich mir dafür die von Stefan Kühl in der Corporate Therapy Folge „Organisationen, Affen und brauchbare Illegalität“ empfohlenen „vier Wochen im Urlaub“ dafür nehme, steht noch in den Sternen …
Da ich, abgesehen von einem oder zwei aus reiner Neugier belegten Mediensoziologie-Einführungs-Seminaren im Studium und etwas unsystematischer Lektüre hier und da, keinerlei formalen Bildungshintergrund in Soziologie oder Systemtheorie habe, werde ich in diesem Beitrag den Inhalt des Buches kaum einordnen, diskutieren oder bewerten können (wie dies z. B. intensiv in diesem LinkedIn-Beitrag von Matthias Meifert geschieht … oder losgelöst vom Buch auch in der Diskussion von Matthias Meifert und Stefan Kühl im Freihändig-Podcast). Deshalb beschränke ich mich im folgenden auf das Zitieren von Passagen, die ich mir herausgeschrieben habe, und dem Versuch einer Zusammenfassung.
Ganz besonders empfehle ich, vorher, nachher oder während der Lektüre diese Folge des Corporate Therapy Podcasts zu hören, in der Judith Muster im Gespräch mit Mary Jane-Bolten und Human Nagafi zentrale Aussagen des Buches diskutiert. Human schließt diese Podcast-Episode mit der treffenden Zusammenfassung, das Buch sei kein Buch der einfachen Lösungen, der anzuwendenden Frameworks, sondern schaffe eine Erkenntnis, „die retroaktiv die Sicht auf Organisationen ändern kann, und wie wir mit Organisationen umgehen automatisch mitändert.“
Und in diesem Sinn beginne ich das Teilen meiner Notizen und herausgeschriebenen Zitate und folge dabei dem Aufbau des Buches, dessen kunstvollen Überschriften ich ebenfalls übernehme:

Einleitung: Menschen und Mitglieder (S. 9)

Exzellente Einleitung, die gleich auf den ersten Seiten deutlich macht, worum es den Autor:innen des Buches geht:

„Je weniger ein Unternehmen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als »ganze Menschen« adressiert, desto besser für die Mitarbeiter (als Menschen wie als Mitarbeiter).“ (S. 9)

„Ein weitverbreitetes Missverständnis macht das Dasein in (…) Organisationen unnötig schwierig. Es ist die Annahme, Kern und Kernproblem einer Organisation seien die Menschen, die in ihr arbeiten. (…) Sichtbar wird das zum Beispiel in der beliebten Phrase, Mitarbeitende brauchten nur das »das richtige Mindset«“ (S. 9f)

„Dass der »ganze Mensch« im Arbeitsvertrag nicht vorkommt, hat gute Gründe: Er geht die Organisation nichts an. (…) Die gut organisierte Organisation entlastet ihre Mitglieder, statt sie als menschliche Puffer zu verschleißen.“ (S. 14)

„Es klingt für viele Organisationsgeschädigte vielleicht vermessen und utopisch, aber es wäre keine schlechte Idee, wenn die Organisation ihre Strukturen nach den (Funktions-)Bedürfnissen ihrer Mitglieder ausrichtet, statt sie als menschliche Auffangbecken und Kompensationspuffer der Organisationsdefizite zu missbrauchen.“ (S. 15)

Der ganze Mensch und andere Irrtümer: Warum Organisationsmitglieder etwas anderes als Menschen sind – und weshalb das nicht unmenschlich ist. (S. 25)

„Das menschliche Verhalten außerhalb der Organisation, etwa politische Aktivitäten oder das Familienleben ihrer Mitglieder, können in einer Indifferenzzone bleiben, so der Organisationsforscher Chester Barnard (Barnard 1938). Es muss (und darf) von der Organisation nicht kontrolliert werden (vgl. Luhmann 1975, 8 f.).“ (S.26)

„Zwischen Mensch und Mitglied fein säuberlich zu unterscheiden ist schon aus Gründen der Hygiene und menschlichen Selbstachtung geboten: Menschen sind einzigartig (sogar solche, die man nicht mag). Organisationsmitglieder müssen austauschbar sein (auch solche, die man schon lange kennt und schätzt).“ (S. 31)

„Rollentrennung schützt beide Seiten, die Organisation und ihr Mitglied, vor Übergriffigkeit.“ (S. 34)

In diesem Zusammenhang möchte ich unbedingt auf die plakative und äußerst unterhaltsame Episode 54 „Niemand verlangt Überstunden von dir – wenn es morgen fertig ist, reicht das“ von Der ganz formale Wahnsinn hinweisen, in der Stefan Kühl und Andreas Hermwille auf die Entlastungsfunktion des klugen Rollenwechsels hinweisen.

Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht: Warum Organisationen Fehler lieber bei ihren Mitgliedern suchen als bei sich selbst. (S. 35)

Personifizierte Schuldzuweisungen haben eine „Entlastungsfunktion“ laut Luhmann. Es sei bequemer, als strukturelle Probleme der Organisation anzugehen. (Vgl. S. 35)

Die Autor:innen identifizieren drei Mechanismen, mit denen die Probleme der Organisation auf deren Mitglieder verschoben werden:

  1. Psychologisierung
  2. Moralisierung
  3. Überdehnung formaler Pflichten
    (Vgl. S. 37)

Psychologisierung

„Beim Einsatz einer Methode wie beispielsweise Spiral Dynamics hofft man, dass durch das künstliche Erzeugen von Gruppendynamiken Luhmanns »Respektbarriere« und die professionelle Distanz zwischen den Kolleginnen und Kollegen überwunden werden. Auf diese Weise will man, ähnlich wie beim Konzept der Transformationalen Führung, zwischenmenschliche Nähe, Freundschaften und das Vertrauen privater Beziehungen als Ressource für die Organisation verfügbar machen.“ (S. 39)

„Die mit der Mitgliedschaft in der Organisation verbundenen formalen Verhaltenserwartungen müssen der Organisation als Steuerungsinstrument genügen. Ist das nicht der Fall, handelt es sich nicht um ein psychologisches Problem, sondern um ein Problem der Organisation. Das bedeutet: Die Organisation muss nicht ihre Mitglieder, sondern ihre Strukturen bearbeiten.“ (S. 40)

Moralisierung

„Der dabei entstehende Druck, persönliche Identifikation (oder auch Commitment) zumindest zu simulieren, führt zu seltsamen Blüten im Theater der Organisation: Es genügt nicht, die Arbeit zu machen, man muss auch zeigen, dass man an sie glaubt.“ (S. 46)

„Das Konzept der transformationalen Führung ist eine Einladung zur Übergriffigkeit gegenüber den Organisationsmitgliedern: gegenüber den Untergebenen in Form von Appellen an ihre Motivation – und gegenüber den Führungskräften, die diese Motivation vorleben und ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen entsprechend bearbeiten müssen.“ (S. 47)

„Die Aufgabe guten Organisierens besteht nicht darin, die endliche Ressource der intrinsischen Motivation auszubeuten, sondern im Gegenteil: darauf zu achten, dass Motivation nicht durch Missbrauch ausgelaugt wird. Genau das aber geschieht, wenn Personen in ihrem Engagement ausgenutzt und zum Puffer für Organisationsdefizite gemacht werden.“ (S. 49)

Überdehnung formaler Pflichten

  • Konditionalprogrammen: Wenn dieses eintritt, machst Du jenes.
  • Zweckprogramme: Das Ziel ist folgendes, der Weg dahin Dir selbst überlassen. (Vgl. S. 49ff)

Konditionalprogramme können Mitglieder entlasten. (Vgl. 50)

„Zweckprogramme können zur Zumutung werden“, wenn nicht ausreichend Ressourcen bereitgestellt werden. Typischer Satz: „Sie schaffen das schon irgendwie“ (S. 51)

Mein Verhalten, die Verhältnisse und ich: Wie Verhalten Erwartungen formt – und wie die Verhältnisse das Verhalten prägen. (S. 55)

Aufgebaute Erwartungen in einer Organisation sind ziemlich stabil. Es braucht Zeit und Geduld, bis ihre verhaltensprägende Kraft nachlässt. (Vgl. S. 59f)

„Die Verhältnisse prägen das Verhalten. Um herauszufinden, warum sich Mitglieder in einer Organisation seltsam verhalten, lohnt es sich, ihre Struktur zu betrachten. Der Grund für Verhaltensauffälligkeiten muss nicht zwangsläufig bei den jeweiligen Persönlichkeiten liegen. Ausnahmen sind Exzentriker und Irrläufer in Machtpositionen. Hier schafft die Organisation Strukturen, um die Störquellen einzuhegen und Erwartungssicherheit zu stabilisieren.“ (S. 64)

Das ging an deine Privatadresse: Wenn Freunde und Familienangehörige eine Organisation prägen, kann es kompliziert werden. (S. 65)

Kleine Organisationen, z. B. Startups, in dem sich miteinander befreundete Mitglieder zur Umsetzung einer Idee organisieren, können eine Zeitlang im „Kumpelmodus“ operieren. Das könne sogar über den Schmerz hoher Arbeitslast hinweghelfen, schreiben die Autor:innen (vgl. S. 67ff). Spätestens, wenn z. B. aus juristischen Gründen oder wachstumsbedingt formale Hierarchien gebildet werden, werde es brenzlig. Dazu nennen die Autor:innen sogar eine Gruppengröße, ab der diese Schwierigkeiten auftreten: 34.
Familienunternehmen hätten hohes Konfliktpotential, da die Rollentrennung dort nicht so einfach funktioniere: „Wenn sich Organisationen mit Familie oder Freundschaften überschneiden, werden Mitglieder wieder als Personen adressierbar. Das kann Vorteile mit sich bringen, aber spätestens bei persönlich ausgetragenen Konflikten weitreichende Folgen haben. Um die Organisation vor Freundschafts- und Familiendramen zu schützen, ist die Trennung zwischen Rolle und Person dringend notwendig.“ (S. 76)

Harmonie wird überschätzt: Wenn Spannungen in der Organisation unvermeidlich, sinnvoll und notwendig sind. (S. 77)

Konflikte in Organisationen könnten hilfreich sein und nur scheinbar persönlichen Charaktereigenschaften entspringen. Tatsächlich wären sie funktional rollenbedingt, z. B. der lästige und kleinkarierte Jurist oder der Wadenbeißer-Finanzvorstand:
„Damit pflegen die lästigen Kollegen keine persönlichen Marotten, zumindest nicht zwangsläufig. Sie erfüllen eine Funktion, indem sie einander widersprechende Anforderungen der Umwelt als interne Spannung in die Organisation tragen“ (S. 80)

Spannungen könnten aber auch dysfunktional sein, betonen die Autor:innen: Gebrüll sei dann quasi die Alarmanlagen, die auf Probleme in der Organisation hinweise.
Deshalb sei es so wichtig, funktionale von dysfunktionalen Spannungen zu unterscheiden: „Welche Zielkonflikte sind produktiv für das Geschäftsmodell und sollen wieder und wieder ausgetragen werden? Für diese Spannungen schafft man im nächsten Schritt gezielt Arenen mit eigenen Spielregeln. (…) Gerade wenn Spannungsaustragung als funktional begriffen und erwünscht ist, muss die Organisation die beteiligten Personen davor schützen, sich als Personen in diese Kämpfe zu involvieren.“ (S. 84)

Das Wechselspiel von Formalität und Informalität: Wie die Organisation ihre Regeln durchsetzt – und weshalb Regeln nicht alles regeln. (S. 89)

Luhmanns Konzept der brauchbaren Illegalität fasziniert mich, seitdem ich den Begriff von Judith Muster auf der gehört habe (Dazu empfehle ich auch, die „Kluges aus der Mitte“-Episode „Judith Muster: Über Verbürokratisierung und Entbürokratisierung von Organisationen“ zu hören. Und von Stefan Kühl gibt es dazu auch ein ganzes Buch, dass ich aus meiner damaligen Perspektive allerdings ziemlich repetitiv und sperrig fand und leider nie fertig gelesen habe.)

In den folgenden Kapiteln bringen die Autor:innen mehrere anschauliche Beispiele, wie sich in Organisationen brauchbare Illegalitäten in verschiedenen Ausprägungen entwickeln. Die Autor:innen beschreiben das Phänomen und dessen (oft belastende) Auswirkungen auf Mitglieder und organisationales Regelwerk nüchtern, ohne das Regelbrechen in irgend einer Weise als zu feiernde „Rockstar“-Attitüde zu überhöhen, wie es im „It’s better to ask for forgiveness than permission“ Singsang so oft anklingt.

„Wer Organisationen von innen kennt, kennt auch die Indifferenzzonen, in denen zwischen legitimen und illegitimen Verhaltenserwartungen nicht so genau wie im Arbeitsvertrag unterschieden wird. (…) Es genügt nicht, einfach die formalen Regeln einzuhalten. Es gibt weit mehr Anforderungen an Mitglieder, als im Prozesshandbuch und Arbeitsvertrag festgelegt sind. Die formale Struktur der Organisation wird erst brauchbar, wenn sie in der Informalität interpretiert und an die jeweilige Situation angepasst wird.“ (S. 92)

„Formale Regeln benötigen Verhältnisse, in denen man diese Regeln einhalten kann. Stellt die Organisation diese Verhältnisse nicht zur Verfügung, zwingt sie ihre Mitglieder zum Regelbruch. Sie kann es sich dann nicht mehr leisten, den Regelbruch, auf den sie angewiesen ist, zu sanktionieren. Weil sie die Tatsache des permanenten Regelbuchs nicht anerkennen können, entwickeln Organisationen den Hang, ihn mehr oder weniger gezielt zu übersehen. Wenn das Regelwerk nicht erodieren soll, müssen Mitglieder in der Lage sein, es zu befolgen und es zumindest für möglich halten, dass sie für Verstöße sanktioniert werden.“ (S. 104)

Nicht einhaltbare Regeln: Wie die Formalität zum Erpressungsinstrument, zum Selbstzweck oder zum Sargnagel der Organisation wird. (S. 105)

Los gehts mit einer Beschreibung, was Überregulierung für Schäden anrichten kann.
Regeln könnten als Erpressungsinstrument genutzt werden, um damit z. B. Arbeitnehmer:innen-Rechte zu unterwandern. Wenn zwangsläufig immer jemand gegen irgendwelche Regeln verstößt, könne die Organisation das im Tausch gegen Gefälligkeiten nutzen … oder falsche Reisekosten- und Spesenabrechnungen als Kündigungsgrund missbraucht werden. (Vgl. 105ff)

Ein weiteres Beispiel, das wahrscheinlich viele Arbeitnehmer:innen aus eigener Erfahrung kennen, ist es, wenn Regeln ohne Ausnahmemöglichkeit Arbeitsabläufe teuer und ineffektiv machen. Hotelkosten maximal bis 100 EUR? Dann wird das Hotel für 95 EUR am Standrand gebucht und zusätzlich eine (nicht reglementierte) Taxifahrt zum Kunden für 30 EUR, anstatt das Hotel nahe beim Arbeitsort für 105 EUR zu wählen … . Und auch einige plakative Beispiele aus David Graebers Buch „Bullshit Jobs“ fallen mir hier ein …

Auf diese Weise sorge Überregulierung dafür, dass zwangsläufig gegen die selbst gesetzten Regeln verstoßen werden müsse, um den Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten: „Im Alltag sind es die Mitglieder der Organisation, die das Regelwerk brauchbar halten – am besten so, dass die Funktionsfähigkeit der Organisation so wenig Schaden nimmt wie die Würde ihrer Mitglieder.“ (S.118)

Brauchbare Illegalität: Wieso jede Organisation Mitglieder braucht, die sich nicht immer an die Regeln halten. (S. 119)

„Die sicherste Methode, eine Organisation stillzulegen, besteht darin, jederzeit alle Regeln penibelst zu befolgen. Das geschieht zumeist (um nicht zu sagen: in der Regel) nicht in bester Absicht, sondern zum Beispiel um sich an einem unhöflichen Management zu rächen“. (S. 119f)
Und NEIN, damit ist weder die ärgerliche Berichterstattung über „Quiet Quitting“ noch um die Pflicht auf Arbeitszeiterfassung und der von manchen Redakteuren herbeigeschriebenen „Rückkehr in die Steinzeit“ gemeint.
Wie die Autor:innen schon in den letzten Kapitel dargelegt haben, lässt sich ein Geschäftsbetrieb nicht vollständig über formale Regeln abbilden (dieser Irrglaube äußere sich dann in einer … oh, ich liebe diesen Begriff! … „Realtheateraufführung der Steuerungssimulation“ (S. 126). Aber die Autor:innen beschreiben, wie sensibel die Balance des formalen Regels und der Nutzung brauchbarer Illegalität ist:
„Praktiken der brauchbaren Illegalität können Organisationsdefizite kompensieren und mit Manövern am Rande oder jenseits des Regelbruchs die Produktivität und Motivation der Mitglieder sichern. Gibt man ihr allerdings unkontrolliert Raum und lässt ihre Verstetigung zu, beraubt die Organisation sich der Fähigkeit, sich zu modernisieren, Arbeitsabläufe zu kontrollieren und Veränderungen zu steuern.“ (S.130)

Elementare Verhaltensweisen: Wie in der Gesellschaft geläufiges Verhalten in die Organisation schwappt. (S. 131)

Elementare Verhaltensweisen sind nach Luhmann „Typen und Ordnungen eines Verhaltens, das in direktem Kontakt unter Anwesenden unmittelbar befriedigt“ (z. B. Höflichkeit, Achtung, Entlastung durch Scherze etc; S. 131)
„Die formalen Regeln einer Organisation werden dafür nicht benötigt, im Gegenteil: Gerade weil sie dafür nicht zur Verfügung stehen, werden elementare Verhaltensweisen auch in Organisationen notwendig. Dank elementarer Verhaltensweisen können wir mit Unbekannten umgehen und scheinbar banale, aber eigentlich recht komplexe Situationen (Schlangestehen, unsinnige Wortbeiträge ertragen, zusammengedrängt Bahn fahren, Rücksicht nehmen) halbwegs friedlich und routiniert bewältigen.“ (S. 132)

Allerdings könne in Organisationen mit zeitkritischen Abläufen (Feuerwehr, Militär etc) „das Ablegen elementarer Verhaltensweisen überlebenswichtig sein“ (S. 133).

Elementare Verhaltensweisen wären ähnlich wie Informalität ein Puffer: „Wenn ein Organisationsmitglied von der Orientierung an der Formalstruktur auf elementare Verhaltensweisen umstellt, handelt es in der Interaktion für einen Augenblick nicht als Mitglied, sondern als Mensch. Die lebenslang geübte Praxis elementaren Verhaltens gleicht aus, was von der formalen Rolle nicht abgedeckt werden kann.“ (S. 133)

Besonders interessant finde ich ein geschildertes Beispiel, dass verdeutlicht, wie elementare Verhaltensweisen „die in der Formalstruktur angemessen ausgedrückte Anerkennung nicht ersetzen (…) aber unter bestimmten Voraussetzungen und über einen gewissen Zeitraum entsprechende Defizite in der Formalstruktur kompensieren“ können (S. 142). Geschildert wird ein Fertigungsbetrieb, in dem es immer mal wieder vorkommt, dass zur Fertigstellung eines wichtigen Auftrags Überstunden geleistet werden. Formal könnten die Betriebsrat und Arbeiter:innen diese ablehnen, aber eine zunächst seltsam erscheinende elementare Verhaltensweise sorgt dafür, dass sie dennoch geleistet werden: Ein Vorstandsmitglied belädt seinen Kofferraum mit Streuselkuchen und fährt eine lange Distanz bis zum Werk, um ihn dort persönlich an die Arbeitenden zu verteilen. Diese zunächst verschwenderisch und absurd erscheinende Geste der Ehrerbietung sorgt (in genau dieser Konstellation!) gerade deshalb dafür, dass die Mitarbeitenden die Überstunden leisten: „Sie zeigt, dass der Chef die Grenzen der formalen Erwartungen anerkennt. (…) Die Geste sagt: Ich nehme die Grenzen der Regeln ernst, und deswegen weiß ich, dass ihr die Mehrleistungen nicht als Organisationsmitglieder erbracht habt, sondern als Person. Und ganz recht, deswegen bedanke ich mich auch als Person.“ (S. 142)
Ich finde dieses Beispiel gerade deshalb so bemerkenswert, weil es verdeutlich, wie schmal der Grad zwischen zynischer und respektloser Übergriffigkeit als Dauerzustand (Crunch? Pizza für alle!) und Wechsel auf die persönliche Ebene zur temporären Überbrückung organisationaler Störungen ist.
Zum Abschluss des Kapitels weisen die Autor:innen darauf hin: „Der Mensch wird von der Organisation wieder in Anschlag gebracht. In vielen Fällen ist das unproblematisch und sogar hilfreich. Es verweist jedoch zugleich darauf, dass Organisationen ihre Mitglieder jenseits ihrer formalen Pflichten in Anspruch nehmen.“ (S. 148)

Streitet euch! Weshalb es anstrengend, aber notwendig ist, die Widersprüche der Arbeitsteilung auszubalancieren. (S. 149)

Viele Kapitel aus dem zweiten Teil des Buches greifen Beobachtungen aus dem ersten Teil wieder auf. So auch in diesem Kapitel, dass erneut auf die Funktionalität von Spannungen hinweist. Die Folklore und Harmonie-Fiktion der „One Company“ ignoriere z. B. lokale Rationalitäten, beschreiben die Autor:innen: „Solche Konflikte sind Organisationsalltag. Sie auszublenden, um die Vorstellung einer fiktiven Harmonie zu pflegen, produziert Wahrnehmungsblockaden. Die in der Organisation und ihrer Umwelt selbst begründeten Zweckwidersprüche werden auf diese Weise weder bearbeitet noch zur Selbstbeobachtung der Organisation genutzt. Sie werden lediglich unsichtbar gemacht und verlagert.“ (S. 155) Wichtig sei stattdessen, dass Konflikte von der Organisationsspitze benannt und ausgetragen werden würden.

Superman wohnt hier nicht mehr: Weshalb Führung überall und nicht nur in der Hierarchie stattfindet. (S. 173)

Und noch so ein schöner Luhmann-Begriff: „Unterwachung“, die „Führung von unten“: „Kluge Vorgesetzte lassen sich bereitwillig von ihren Untergebenen führen. Sie wissen, dass die Verweigerung der Unterführung und die Überbetonung der Hierarchie dazu führen kann, dass alle ungelösten Probleme nach oben weitergereicht werden.“ (S.177)

Interaktion: Lass uns drüber reden: Wieso sich nicht alles durch offene Gespräche lösen lässt – und vieles dadurch erst recht kompliziert wird. (S. 189)

Dialog, Interaktion, Besprechungen in Meetings etc sei in vielen Fällen ein heiliges Kalb geworden, betonen die Autor:innen.
Allerdings: „Die Konkurrenz um das knappe Gut der Redezeit und die Versuche, gewünschte Themen durchzusetzen, lassen viel Raum für Dominanzspielchen, für Strategen der Selbstvermarktung und Virtuosinnen der Kunst der Situationsbeherrschung.“ (S.193)
„Der Prozess der Entscheidungsfindung muss dennoch im Theater der Organisation als Interaktion aufgeführt werden, denn erst die Aufführung verschafft der Entscheidung die notwenige Legitimation.“ (S.192)

Das Theater der Organisation (und die Organisation des Theaters): Wieso Büros, Werkhallen und Konferenzräume Bühnen sind (und Bühnen Organisationen). (S. 201)

„Wer sich in der Organisation bewegt, braucht Theaterkompetenz.“ (S. 202) Es finde ein „ständiger Rollenwechsel zwischen formaler und informaler Rolle“ (ebd) statt. Deshalb sei Theater „gleichzeitig Produkt und Dauerproblem der Organisation“ (S.203)
Weiterhin sei das Einnehmen von Rollen auch Schutz, denn auf der Bühne gälte in der Organisation wie im Theater die Aussage von Rimbaud: „Ich ist ein anderer“ (S. 210)

Fassadenarbeiten: Wieso die Schauseite glänzen muss – und was dabei schiefgehen kann. (S. 217)

Beschrieben wird die Schauseite als Fassade der Organisation, die sie vor Irritationen von außen abschirmt. Zwar ließe sich mit der Fassade die Interessen bestimmter Gruppen adressieren, aber mit steigender Komplexität des Geschäfts werde dies immer schwieriger. Deshalb blieben manche Fassaden bewusst unscharf, um verschiedene Zuschreibungen zu ermöglichen: „Besser, man geht nicht zu sehr ins Detail und bleibt im Allgemeinen, indem man unscharf und eher unverbindlich über Werte, Verantwortung, Nachhaltigkeit, Innovation und andere jederzeit konsensfähige Ziele spricht.“ (S.219)
Das gehe so weit, dass manche Fassaden vollständig von der Realität entkoppelt seien: „Man zeigt dann lediglich, wie man gesehen werden möchte.“ (S.219)
„Schauseiten dienen der Organisation als Blickfang, hinter denen in Ruhe gearbeitet werden kann. Sie überdecken Spannungen und machen Konflikte erträglich. Doch birgt ihr Einsatz Risiken: Was in der Darstellung versprochen wird, sollte zumindest losen Bezug zur organisationalen Realität haben. Sonst schafft man sich die zynische Organisation.“ (S. 234)
Als Beispiel für die „leeren Signifikanten“ (S. 225) der auf der Schauseite polierten Managementmoden nennen die Autor:innen die oft beschworene „Fehlerkultur“: „Fehlertoleranz ist deutlich voraussetzungsreicher, als es die Schauseitendarstellung der wunderbar angstfreien und innovativen Organisation suggeriert.“ (S.230) Denn auf den modischen Fuck-Up-Nights würden selbstverständlich eher die kleinen Fehlerchen berichtet als die, die ein Unternehmen ins Straucheln bringen: „Die Fuckup-Nächte verniedlichen das Scheitern von Funktionsträgern in Organisationen und die Folgen ihrer Fehler (sowohl für die Personen wie für die Organisation).“ (S.233)

Besuch in Kafkas Schloss: Weshalb manche Desaster-Organisationen nicht zu ändern sind – und man sie nur resigniert ertragen oder verlassen kann. (S. 235)

Meine Notizen aus dem letzten Kapitel sind kurz und mit dem Titel ausreichend zusammengefasst 😉

(Kein) Ende: Die Humanisierung der Organisation: Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert. (S. 243)

Im Abschluss fassen die Autor:innen die Kernbotschaften des Buches noch einmal zusammen:
Organisationsmitglieder seien weder Rädchen in der Maschine ohne „Umwelt“, noch dürften sie übergriffigerweise vollständig von der Organisation vereinnahmt werden. Stattdessen seien sie „sozusagen nebenberuflich“ Menschen (S. 246f). Diese Tatsache dürfe nicht ignoriert, sondern müsse nüchtern betrachtet und unterschieden werden, als „aufgeklärtes Verständnis der Organisation, ihrer Funktionslogiken, Zweckwidersprüche, lokalen Nationalitäten und des trickreichen Zusammenspiels von Informalität und Formalität.“ (S. 248)

Nachlese

Ich bin sehr gespannt auf die Podcast-Staffel zum Buch, die Andreas Hermwille mit Judith Muster und Kai Matthiesen produziert.

Am 11. Oktober findet bei Metaplan außerdem ein Symposium statt, zu dem ich leider wegen eines zeitgleich anderen Termins nicht kommen kann.

Ich gebe hier sicher Bescheid, wenn ich irgendwann den Luhmann-Klassiker gemeistert habe …

Außerdem möchte ich mich in Stefan Kühls Blick auf die Lernende Organisation vertiefen: „Das Regenmacher-Phänomen“ liegt schon sehr lange auf meinem Bücherstapel und ist durch die jetzige Auseinandersetzung wieder nach oben gerutscht.

Ich mir die im Buch erwähnte Untersuchung totaler Organisationen besorgt: „Asyle“ von Erving Goffman. Ein Buch, was mich eher privat als konkret beruflich motiviert interessiert.

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