
Eine der spannendsten und inspirierendsten Diskussionsrunden, die ich auf der re:publica erlebt habe, widmete sich der „Nationalen Bildungsplattform“ (NBP) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, bzw. genauer, um deren ersten Prototypen „Bildungsraum Digital“ (BIRD).
Karlheinz Pape hat vor einiger Zeit bereits seine Notizen und Gedanken zur Session veröffentlicht. Ich schließe mich heute an.
Zusammensetzung des Panels
Hier ist die Sessionankündigung. Es diskutierten Felicitas Macgilchrist („forscht an der Schnittstelle von Medien und Schule mit einem besonderen Fokus auf den sozialen und politischen Kontexten von Bildung in der digitalen Welt“), Ulrike Lucke (Koordinatorin/Architektin beim Aufbau der NBP) und Michael Seemann (forscht über Internetkultur und Plattformen und ist Autor des Buches „Die Macht der Plattformen“). Felicitas Macgilchrist und Michael Seemann arbeiten gemeinsam im Auftrag von Wikimedia an einer Konzeptstudie über die NBP, teilten in dem Panel einige Ergebnisse und Forderungen vorab und diskutierten dazu mit Ulrike Lucke. Moderiert wurde das Panel von Heike Ekea Gleibs (Wikimedia).
Was ist die NBP und BIRD?
Viel mehr als ein flüchtiger Begriff im Hinterkopf war mir die Nationale Bildungsplattform bisher leider nicht. Jochen Robes hatte einige Male darüber berichtet und in dem von mir zusammengefassten Education NewsCast Podcast noch einmal nachgefragt, was nun eigentlich daraus geworden sei.
Verkündet wurde die Initiative zum Aufbau einer NBP im Januar 2021 … geprägt durch die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, wie das BMBF betont. Diese Übersicht fasst die Pläne zusammen.
Im März 2021 begann die Arbeit an dem ersten Prototypen namens BIRD, zu dem es hier eine FAQ-Liste gibt.
Drei Kernfunktionen sollen bei BIRD im Zentrum stehen, steht auf der BIRD-Beschreibung des DAAD:
1. Ein Login für die lebenslange Bildung durch Single-Sign-On (SSO)
2. Selbstbestimmung durch nutzerseitige Data Wallets
3. Durch ein zentrales Metadaten-Management alle Inhalte über eine Suche finden
Etwas allgemeiner und verständlicher ist es in diesem Artikel des Hochschulforums Digitalisierung beschrieben:
„Die Bildungsplattform (…) unterstützt Lehrende und Lernende auf ihrer individuellen Bildungsreise, indem sie Orientierung- und Beratungsangebote bietet. Auf der Plattform ist es aber auch möglich, individuelle Lernstände oder auch Zertifikate zu speichern. Dadurch werden Übergänge zwischen verschiedenen Bildungsbereichen erleichtert. Auf der Plattform werden nicht nur schulisches und universitäres Lernen unterstützt, sondern auch bildungsbereichsübergreifende Angebote aus der Aus- und Erwachsenenbildung verknüpft. Ziel des BMBF ist es, bestehende Bildungsplattformen und -angebote so über die Meta-Plattform zu vernetzen, dass für Nutzende ein umfangreiches Bildungsangebot entsteht. Dieses soll auf Wunsch einen personalisierten, selbstsouverän zu verwaltender Zugang zu lebensbegleitenden Bildungsangeboten, sowie Austausch- und Kollaborationsformaten enthalten. Auch eine verschlüsselte Ablage der eigenen Zeugnisse und Zertifikate soll auf der Bildungsplattform möglich sein. Anhand von definierten Schnittstellen können Bildungsinstitutionen ihre Angebote über die Meta-Plattform zugänglich machen.“
Auch vom BMBF selbst gibt es einen Videotrailer.
Mit 630 Mio Euro ist das überaus ambitionierte Projekte ebenfalls sehr ambitioniert ausgestattet.
Mittlerweile finden sich viele detaillierte Informationen zu BIRD im Internet, hier z. B. mehrere Rundgänge durch den Prototypen, die einen allerersten Eindruck davon vermitteln, wie BIRD nutzbar sein soll.
Forderungen von Wikimedia

Begleitend zum Panel wurde von Wikimedia eine Broschüre verteilt, in der Forderungen an die Nationale Bildungsplattform zusammengefasst wurden:

In der Broschüre wird die NBP als „ambitioniert, undurchsichtig, folgenreich“ bezeichnet und der starke technische Fokus bemängelt. „Doch wie jede Plattform ist auch diese keine neutrale Infrastruktur, sondern sie bestimmt Bildung mit. Hinter jeder Bildungsplattform steht ein spezifisches Bildungsverständnis. Und genau hier fehlt eine begleitende öffentliche Auseinandersetzung darüber, wie Lernen im Digitalen gestaltet sein soll.“
Konkretisierend: Durch die Strukturierung der Plattform werde vor-entschieden, „wie Lernen stattfinden kann, was Lernerfolge kennzeichnet, welche Formen von Bildung im Verlauf einer Lernbiographie als wertvoll anerkannt und welche als unwichtig aussortiert werden.“ Wird der Bildungsweg von Expert:innen linear vorgegeben oder durch die Community der Lernenden ergebnisoffen erarbeitet? Welche Lernleistungen werden zertifiziert … und wird dadurch die existierende Vormachtstellung formaler Bildung weiter gestärkt, während informelle, ehrenamtlich eingebrachte, autodidaktische Lernleistungen unsichtbar bleiben?
All das müsse in einer öffentlichen Debatte diskutiert werden, bevor es in der NBP mit weitreichenden Folgen zementiert werde, wird in der lesenswerten Broschüre gefordert:
„In Sachen Informationsfluss und Beteiligung zeigt sich die Entwicklung der Nationalen Bildungsplattform allerdings bisher verschlossen. Deshalb wirbt Wikimedia Deutschland für mehr Transparenz in der Planung, Gestaltung und vor allem Erprobung im Prozess. Mehr Offenheit für die Nationale Bildungsplattform kann zu transformativem Lernen beitragen und Bildung als demokratisches Gemeingut stärken.“
Auf dem #rp22 Panel wurden diese Forderungen von Felicitas Macgilchrist und Michael Seemann weiter vertieft und mit Ulrike Lucke diskutiert.
Wichtige Aussagen aus der #rp22 Diskussion
Ulrike Lucke beginnt mit einer Beschreibung der zentralen Ziele: „Wir wollen verbinden, um öffnen zu können“. Die Kollaboration von Lernenden und Lehrenden mit- und untereinander solle gefördert werden.
Michael Seemann führt ein: Plattformen seien immer politisch und würden pädagogische Entscheidungen abbilden. BIRD als Schnittstellenplattform inkorporiere wie alle Plattformen Infrastrukturen, die nie neutral sind. Bestimmte Infrastrukturen fördern bestimmte Pfadentscheidungen. Welche Arten von Interaktionen werden dadurch möglich und wahrscheinlich gemacht? Michael Seemann nennt das „Infrastruktur-Regime und -Hegemonie“ und betont, dass oft nicht von Anfang an vorhersehbar sei, wie sich diese letztlich ausbilden.
Michael Seemann und Felicitas Macgilchrist betonen, dass sie untersuchen, welche Pfadentscheidungen in der NBP abgebildet sind und herausarbeiten, welche Infrastrukturregime sie stattdessen befürworten. Außerdem weisen sie darauf hin, dass das Bildungsministerium ihnen dazu keine Auskunft gegeben und Dokumente verweigert hätte.
Felicitas Macgilchrist fasst in drei Beobachtungen zusammen, welche pädagogischen Entscheidungen heute schon in der Plattform erkennbar sind:
- Lernen und Bildung werde als technisch unabhängig gesehen, was so aber nicht stimme. Man müsse die Art, wie Lernen stattfindet, eng verwoben mit der Technologie und den Medien sehen. Macgilchrist nutzt die wunderbar einprägsame Metapher einer „Servierplatte“, die durch ihre Form ja auch mit vorgebe, was auf ihr serviert werden könne und was nicht: Suppe oder Eis könne man darauf z. B. nicht anbieten.
- Lernen und Bildung werde als marktförmiges Produkt anstatt als Prozess gesehen. Das komme in der Wallet-Metapher zu, Ausdruck: Bildung sei ein Marktplatz für Anbieter und nur das, was in die Wallet passe (als Zertifikat), zähle als Lernen und sei überhaupt sichtbar und greifbar. Macgilchrist fragt, wie das zur Vorstellung von Bildung als öffentlichem Gut passe.
- Lernen werde als individueller, personalisierter Prozess gesehen statt als Kollaborationen, die sozial und konfliktreich stattfänden. Durch diese „Überindividualisierung/Hyperindividualisierung“ bestehe die Gefahr, nur die einzelnen Häppchen auf der Servierplatte zu sehen und nicht das soziale Gefüge, in das Lernen eingebettet ist.
Ulrike Lucke widerspricht den Beobachtungen von Felicitas Macgilchrist in Teilen und betont, dass viel Aufwand in kollaborative Lernszenarien gesteckt werde. Auch kritisiert sie die Servierplatten-Metapher, da die NBP als Metaplattform viele verschiedene Plattformen integriere. Lucke bestätigt, wie wichtig der Dialog über die Algorithmen sei, da dieser als selektierender und sortierender Mechanismus eine große Macht habe.
Seemann weist darauf hin, dass es zwar noch nicht viel umgesetzte Technologie gebe, die untersucht werden könne, ihn bestimmte öffentliche Aussagen aber aufmerksam werden lassen. Die Metapher von „Lernpfaden“ scheine ein Leitmotiv zu sein, dass er kritisiert: Das dreigliedrige Schulsystem wären auch Lernpfade, und wenn Lernende einmal auf einer dieser Schienen fahre, sei es sehr schwierig, den Pfad zu wechseln. Seemann fragt, ob es wirklich sinnvoll sei, das digital in BIRD nachzuahmen.
Lucke entgegnet, dass die Pfade so angelegt sein müssten, dass ein Wechsel möglich sei … und um das sinnvoll umzusetzen, sei eine Zusammenarbeit mit Pädagog:innen wichtig.
Hier fragt Macgilchrist nach, wie die Lernpfade visualisiert würden … denn die Form der Visualisierung lädt ein, bestimmte Pfade anderen vorzuziehen. Sie vergleicht mit anderen Plattformen, auf denen die vom Algorithmus vorgeschlagenen Entscheidungen durch die Nutzer:innen meistens gewählt würden.
Auch hier betont Lucke, dass ihr eine möglichst gleichberechtigte Visualisierung der Bandbreite von Wahlmöglichkeiten vorschwebe.
Abschließend betonen alle Beteiligten erneut, wie wichtig eine breite Diskussion zu dem in der Plattform manifestierten Infrastruktur-Regime sei. Seemann weist darauf hin, dass Plattformen sehr mächtige, in sich inhärent politische Akteure/Räume seien. Welche Politik daraus entstehe, sollte in einem größeren Rahmen diskutiert werden, als es aktuell geschähe. Macgilchrist weist darauf hin, dass in anderen Ländern (Irland) auch Impulse von Schüler:innen berücksichtigt würden. Wie sähe ein wirklich partizipativer Prozess aus?
Interessant fand ich den nachgelagerten Hinweis von Seemann zum Self-sovereign identity Verfahren, manifestiert in der Wallet. Die Verantwortung für die Sicherung der Daten liege damit in der Verantwortung der Individuen. Im Crypto-Bereich würden solche Wallets immer wieder gehackt und seien damit ein Sicherheitsrisiko.
Macgilchrist schließt mit der inspirierenden Idee, „die Bildungsplattform als Reflexionsmoment zu sehen (…): Wer bin ich durch diese Plattform? Als wen spricht mich diese Plattform an und zu was werde ich durch diese Plattform … so dass ich reflektieren kann, welche Teile von mir als Lernende:r sichtbar werden … in dieser Rolle als Lernende:r, die nicht die ganze Rolle von mir als sich bildender Mensch ist.“
Die ganze Session kann hier nachgesehen werden:
Meine abschließenden Gedanken
Macgilchrist und Seemann haben für mich sehr wertvolle Aspekte angesprochen, wie Plattformen die Art des Lernens prägen. Auf das Lernen in Unternehmen reduziert ist dies jeden Tag im kleinen zu sehen, wenn wir uns Lernmanagementsysteme (LMS), Learning Experience Plattformen (LXP), Enterprise Social Networks (ESN) oder andere Lernplattformen ansehen, die so oft verraten, welche Vorstellungen und Praktiken von Lernen im Unternehmen etabliert sind. Nebensächlich erscheinende Entscheidungen oder Änderungen in der Struktur dieser Lernräume können große Auswirkungen darauf haben, wie Mitarbeitende lernen. Wir machen uns das oft viel zu wenig bewusst.
Viel zu wenig bewusst machen sich viele Unternehmen auch, welche Auswirkungen das Einführen einer Lernplattform bei ihnen haben kann (oder eben auch nicht). Mit der technischen Einführung ist es nicht getan. Oft werden aber diffuse und nicht näher spezifizierte Hoffnungen auf Plattformen projiziert: Durch die Einführung einer LXP wird sich Lernen schon irgendwie zum Positiven wenden. Was dem vorausgehen muss ist die die Reflexion und Debatte darüber, welche Art des Lernens durch die Einführung der neuen Plattform gefördert werden soll und durch welche Infrastrukturen und Praktiken dies geschehen kann.
Auch die im Panel angesprochene individualisierte Betrachtungsweise von Lernen finden sich in immer noch viel zu vielen Unternehmen wieder. Lernen wird in individuell zugewiesenen Häppchen (auf die Möglichkeiten des LMS oder der sonstigen standardisierten Infrastruktur zugeschnittener Content bzw. Events) auf der Servierplatte (LMS) betrachtet, im schlimmsten Fall rollenspezifisch mit Kompetenzmatrixen verknüpft … völlig losgelöst vom Team-Gefüge, in dem sich die Mitarbeitenden befinden.
Sichtbarkeit von Lernaktivitäten: Ein überwältigend großer Teil wertschöpfender Lernaktivitäten ist in Unternehmen heute völlig unsichtbar, da die Lernenden nicht die Möglichkeit haben, ihre erworbenen Kompetenzen sichtbar und auffindbar zu machen, mit Kolleg:innen zu teilen oder sie anderweitig einzubringen (das wäre z. B. in Open Spaces/Barcamps, in Lerntagen oder eben auf sinnvoll und potenzialfördernd strukturierten digitalen Plattformen, LXP, ESN, Communities möglich …). Was hingegen sichtbar ist: Zertifikate, Häkchen im LMS … all die kaum relevanten Artefakte, die die Fähigkeiten der Mitarbeitenden wohl am allerwenigsten ausmachen.
Und ein weiteres Buch liegt auf meinem #rp22-Nachlesestapel: „Die Macht der Plattformen“ von Michael Seemann … mittlerweile auch als günstiges Exemplar über die Bundeszentrale für Politische Bildung zu beziehen.
