Februar 25, 2023

In der aktuellen Folge des Education Newscast spricht Nadia Eggmann mit Thomas Jenewein über die Ergebnisse ihrer Doktorarbeit. In den letzten fünf Jahren hat sich Nadia intensiv mit Anwendungsfällen und Erfolgsfaktoren von Künstlicher Intelligenz im Corporate Learning auseinandergesetzt und Handlungsempfehlungen daraus abgeleitet: Wie können Corporate Learning Professionals KI-basierte Systeme zur Unterstützung ihrer Arbeit verwenden?

Die wichtigsten Ergebnisse der 700seitigen Arbeit gehen Nadia und Thomas in der 55minütigen Episode komprimiert durch. Dabei fokussieren sie sich nicht auf die in den letzten Monaten so populär gewordenen Large Language Models wie ChatGPT etc, sondern betrachten KI-basierte Systeme viel breiter und grundsätzlicher (das war angesichts des Entstehungszeitraums ja auch nicht anders möglich).

Vorneweg: Nicht nur beim Hören dieser Podcast-Folge, sondern auch beim Lesen vieler anderer Artikel über potenzielle Einsatzszenarien von „Künstlicher Intelligenz“ im Corporate Learning beschleicht mich der Eindruck, „Künstliche Intelligenz“ hat weiterhin den Nimbus einer Technologie, mit der zukünftig vieles von dem möglich werde, was Technologie heute noch nicht könne. Eine Art Platzhalter für zukünftige Entwicklungen. Sehr breit, sehr unkonkret, aber irgendwie wohl hilfreich. Und weil die Projektionen so breit sind, werden potenzielle Risiken, der Technik inhärente Begrenzungen und überzogene Hoffnungen selten thematisiert … weder in diesem Podcast noch in vielen anderen Veröffentlichungen zu Künstlicher Intelligenz im Bereich L&D, Personalentwicklung oder HR, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Ich vermute, es braucht weiterhin einen technisch-spezifischen und -detaillierten Blick auf die Funktionsweise von KI-basierten Systemen, um Einsatzzwecke bewerten zu können. Aus diesen Gründen hat mich die Podcast-Episode mit einigen Fragen zurückgelassen. Insbesondere Gefahren und Beschränkungen wurden mir nicht konkret genug thematisiert … aber das liegt sicher auch an dem Anspruch der Podcastfolge, sich auf Einsatzzwecke und Erfolgsfaktoren zu fokussieren.

Zwei Herangehensweisen scheinen mir prägend für Nadias Untersuchungsperspektive und das Gespräch zu sein:

  1. Nutzung des Task-Technology Fit Modells: Wie passen die Charakteristiken KI-basierter Systeme und die zu erledigenden Aufgaben im Corporate Learning zusammen?
  2. Augmentation als Leitmotiv: Wie unterstützt die Technologie die Arbeit der Menschen?

Allerdings beobachte ich in vielen anderen Artikeln zum Thema, dass genau diese beiden Positionen beliebte Flucht-Argumente gegenüber KI-Kritik sind. Mich würde interessieren, ob Nadia in ihrer Doktorarbeit darauf weiter eingeht – z. B. hilfreiche und harmlose von potenziell gefährlichen Formen der Augmentation unterscheidet?

Folgende im Gespräch genannte Anwendungsbeispiele und Nutzenpotenziale habe ich mir aus dem Gespräch notiert:

Anwendungsbeispiele

  • Bedarfsklärung, Diagnostik, Assessments: Vorleistung zur Personalisierung
  • Konzeption/Erstellung: z. B. Automatische Quizzes, Tagging
  • Kuration von Materialien
  • Lernempfehlungen
  • Unterstützung im Community Management
  • Lehrempfehlungen / Feedback
  • Administrative Systeme
  • Frühwarnsysteme
  • Qualitätsentwicklung, Evaluation

Nutzenpotenziale

Effektivität („Learn Better“)

  • KI-unterstützte Systeme können über Simulationen sichere Orte zum Üben schaffen
  • Analysefunktionen können Aufmerksamkeit dahin lenken, wo sie benötigt wird

Effizienz („Learn more/the same for less“):

  • Automatisierung ermöglicht Befreiung von Routineaufgaben (Nadia erwähnt am Ende des Podcasts, wie enorm zeitsparend für ihre eigene Arbeit die Nutzung KI-basierter Transkriptionsdienste waren)
  • Ein besseres Gleichgewicht zwischen Arbeits- und Ausbildungszeit

Skalierung

  • Adaption/Personalisierung ermöglicht es, mehr Lernende zu erreichen und dennoch kein „Massenprogramm“ anzubieten
  • Durch Übersetzungsfunktionen können Sprachbarrieren überwunden werden

Orientierung

  • Kuration
  • Lernempfehlungen
  • Weniger menschlicher Bias (allerdings dürfen wir nicht Gefahr laufen, KI-unterstützte Systeme als in irgendeiner Form ’neutral‘ anzusehen!)

Neue Erkenntnisse

  • Besseres Verständnis der Zielgruppe durch Datenanalyse (Auch hier bedarf es meiner Ansicht nach einer besonders sorgfältigen Augmentation, um kein Schein-Verständnis aufzubauen, das Korrelation mit Kausalität verwechselt oder das Leben der Lernenden außerhalb einer Plattform ignoriert)

Handlungsempfehlungen für Corporate Learning Professionals

Den dritten Block im Podcast bilden Handlungsempfehlungen gemäß dem Task-Technology Fit:

  • Identifizieren eines relevanten Praxisproblems, zu dessen Lösung die Technologie passt
  • Überblick über verfügbare Angebote und deren Nutzenpotenziale verschaffen: Gibt es einen Fit? Falls nicht: Wie können wir das Problem schärfen oder ‚kleiner schneiden‘?
  • Benötigt es die Technologie … oder reicht vielleicht ein konventionelles, regelbasiertes System?
  • Strategische und normative Fragen prüfen: Passen Aufwand und Nutzenerwartung? Stimmen Einsatz und Nutzenerwartung mit unseren Vorstellungen von „gutem Lernen und Lehren“ überein? (So ein wichtiges Thema! Was mir meines Erachtens unbedingt vermeiden sollten, ist die Simulation einer Lernbeziehung zwischen Menschen, indem wir Lernpartner:innen durch Maschinen ersetzen!) Welche rechtlichen und ethischen Aspekte müssen geprüft werden? (Gerade hier werden wir meines Erachtens in den nächsten Monaten und Jahren besonders genau hinschauen müssen.)
  • Wie soll die angestrebte Augmentation aussehen?
  • Umsetzungsplanung: Haben wir zur Umsetzung die notwendigen Kompetenzen? Welche Erfolgsfaktoren nutzen wir und wovon hängt der Erfolg ab?

Was ergibt sich aus der Beziehung KI-basierter Systeme und der Arbeit von Corporate Learning Professionals?

Aus elf in der Doktorarbeit diskutierten Neuerungen greift Nadia vier Aspekte im Podcast auf:

  • Daten werden immer wichtiger. Ohne Daten können KI-basierte Systeme nicht arbeiten.
  • Ethische und pädagogische Aspekte verlangen Bewusstsein und besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt: Welche Lernkultur wollen wir prägen und welche bewusst nicht?
  • Die Nutzung KI-basierter Systeme zur Augmentation ist kein Plug and Play, sondern erfordert Investitionen in Change, Daten und Modelle.
  • Teams müssen multidisziplinär zusammenarbeiten. Schnittstellendisziplinen werden immer wichtiger.

Erfolgsfaktoren der Adoption

Basierend auf drei durchgeführten Fallstudien leitet Nadia im Podcast folgende Erfolgsfaktoren ab, die mir allerdings generisch erscheinen und sich auf fast jede IT-Technologie-Einführung anwenden lassen:

  • Vorbehalte der Betroffenen erkennen und aufgreifen, Qualifizierung ermöglichen und gut kommunizieren
  • Unterstützung der Geschäftsleitung erreichen
  • Eine gute User Experience und Usability ermöglichen
  • Eine Anwendung, die konsequent aus dem Geschäftsablauf heraus gedacht ist
  • Datenschutz ernst nehmen und einhalten
  • Auf Datenqualität achten, denn sie ist das Fundament für die Arbeit der Algorithmen
  • Schnittstellen zu anderen Systemen beachten

Vom klassischen zum zukunftsgerichteten Corporate Learning

Zusammenfassend erwähnt Nadia zwei Aspekte, wie KI-basierte Systeme ihrer Analyse nach die Modernisierung des Corporate Learning unterstützen können:

  • Die erwähnten Nutzenpotenziale unterstützen die Wandlung der Personalentwicklung hin zur Rolle der Lernbegleitung und -ermöglichung
  • Lernenden nehmen ihr Lernen immer aktiver in ihre eigenen Hände: autonom, selbstgesteuert, eigenverantwortlich, kontinuierlich und, so Nadia, intrinsisch motiviert. (Hier würde ich auch gerne tiefer einsteigen, denn ich vermute viele potenzielle Irrwege, in denen KI-basierte Systeme eigenverantwortlich Lernende um Chancen zum Lernen bringen und eine scheinbare Unterstützung schnell zur Falle werden kann.)

Wie wahrscheinlich die meisten Anbieter im Bereich Corporate Learning prüfen auch meine Kolleg:innen gerade intensiv, welche der neuen technischen Möglichkeiten sich sinnvoll für die Unterstützung menschlichen Lernens in Unternehmen einsetzen lassen.

Anfang des Jahres war ich dazu mit meinen Kolleg:innen Susanne Dube und Axel Lindhorst im Lernlust-Podcast im Gespräch: „Die KI und wir“. Diese Folge, in der wir uns bewusst mit unserer ganz subjektiven Perspektive auf die Nutzung von Generative AI im Corporate Learning auseinandergesetzt haben, scheint mir aufgrund der rasanten Entwicklung schon bald wieder aktualisierungsbedürftig.

Der Überblick über das Thema mit Nadia und Thomas im Education Newscast ist hingegen unaufgeregt und (schon aufgrund der längerfristigeren und umfassenderen Forschung mit dem Themenfeld) sinnvollerweise allgemein. Ausgehend von meinen Notizen, die ich in diesem Blogbeitrag zusammengetragen habe, möchte ich demnächst tiefer auf einzelne Aspekte eingehen.

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