August 15, 2023

Im Februar dieses Jahres verschickte das eLearning Journal einen Fragenkatalog zum Thema „Corporate Learning Ecosystems“. Diese Fragen waren für mich der Anstoß, mich systematischer mit diesem Trend-Begriff auseinanderzusetzen.

Da das eLearning Journal mittlerweile einen Artikel publiziert und mich an einigen Stellen zitiert hat, veröffentliche ich hier meine vollständigen Antworten auf die Fragen.

Meine mittlerweile weiter ausgebildeten Überlegungen werde ich in nächster Zeit noch in Beiträgen verfassen. Hier also erst einmal die Fragen, mit denen es losging …

Wie definieren Sie den Begriff „Corporate Learning Ecosystem“? 

Der Begriff „Corporate Learning Ecosystem“ wird sehr unterschiedlich definiert. Ich plädiere für das folgende Verständnis: 

Ein „Learning Ecosystem“ ist ein dynamisches, komplexes, in permanenter Wechselwirkung stehendes Beziehungsgefüge von Lernenden untereinander, mit ihrer Lern- und Arbeitsumgebung und mit weiteren Artefakten im Unternehmen. Der Zusatz „Corporate“ beschreibt nicht Grenzen oder Bedeutung dieses Ecosystems, sondern die Perspektive, aus der wir es betrachten und die Anforderungen, die wir an es stellen.  

Leider wird der Begriff „Corporate Learning Ecosystem“ oft auf technische Infrastrukturen eingeengt. Das ist zu kurz gedacht. Corporate Learning Ecosystems bestehen nicht nur aus Lernplattformen o. ä., sondern sind eher ein Denkmodell, das sichtbar und besprechbar macht, wie sich lernende Interaktion und Beziehung der verschiedenen Akteure gestaltet – auf Lernplattformen aber auch unabhängig davon. 

Corporate Learning Ecosystems sind nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Lernen innerhalb der Organisationsgrenzen, sondern können und sollten über diese hinausgehen. Wie es auch in unserer natürlichen Umwelt viele verschiedene überlappende und in wechselseitiger Beziehung zueinanderstehende Ökosysteme gibt, kann es viele verschiedene Corporate Learning Ecosystems in einem Unternehmen, über ein Unternehmen hinaus oder in einer bestimmten Fachdisziplin geben. Diese Corporate Learning Ecosystems stehen in Verbindung/Beziehung zueinander. 

Ein „Corporate Learning Ecosystem“ ist emergent und ganzheitlich. Es wird nicht zentral gesteuert oder gestaltet, sondern beinhaltet viele dezentrale, spontan entstehende und wieder vergehende oder auch über längere Zeit stabile Symbiosen. Es ist ein sehr umfassendes Modell, das im Idealfall, wenn Lernen und Arbeiten miteinander verschmelzen, beschreiben kann, wie sich Organisationen anpassungs- und zukunftsfähig halten. In dieser weiten Lesart besteht aber die Gefahr, dass der Begriff beliebig eingesetzt werden: Lernen ist immer und überall. 

„Corporate Learning Ecosystem“ ist zunächst ein wertfreier Begriff. Ein „Corporate Learning Ecosystem“ ist nicht gut oder schlecht und hat auch keinen „Reifegrad“, sondern es ist zunächst einfach. Abläufe, Beziehungen und Elemente in einem Corporate Learning Ecosystem können für einen bestimmten Arbeitskontext förderlich sein, während sie für einen anderen Arbeitskontext keinerlei Lebensgrundlage bieten. Besonders gut sichtbar wird das z. B. in regulierten Umfeldern, in denen einzelne Bedarfe sehr unterschiedliche Anforderungen an das Corporate Learning Ecosystem stellen können.  

L&D, PE, HR sind deshalb nicht mehr zuständig, erschaffend oder managend, sondern können Leben/Lernen in einem Corporate Learning Ecosystem durch Impulse unterstützen, fördern oder produktiv irritieren … wie das auch andere Stakeholder können.  

Welche Bestandteile bzw. Komponenten hat ein Corporate Learning Ecosystem? 

Wie oben beschrieben: Ein Corporate Learning Ecosystem umfasst das Beziehungsgefüge von Lernenden, ihrer Lern- und Arbeitsumgebung und weiterer Artefakte im Unternehmen. Eine Möglichkeit, ein Corporate Learning Ecosystem zu untersuchen, ist ein Blick auf die verschiedenen (über-)organisationalen Ebenen, für die ein Corporate Learning Ecosystem Leben-/Lernraum sein kann: 

  1. Lernen als Individuum
  1. Lernen in Teams/Gruppen 
  1. Lernen im gesamten Unternehmen  
  1. Lernen mit Kund:innen, Partner:innen … 
  1. Lernen mit und in der Gesellschaft 
(Über-)organisationale Ebenen im Corporate Learning:
- Lernen als Individuum
- Lernen in Teams/Gruppen 
- Lernen im gesamten Unternehmen  
- Lernen mit Kund:innen, Partner:innen … 
Lernen mit und in der Gesellschaft

Das, was Lernen auf diesen Ebenen direkt und indirekt prägt, wird oft unkonkret als „Lernkultur“ beschrieben, damit aber noch nicht bearbeitbar. In unserer Arbeit richten wir unsere Scheinwerfer deshalb u. a. auf folgende Bereiche eines Corporate Learning Ecosystem: 

  • Praktiken (z. B. agile Praktiken, Lernzirkel, Lerncoaching, Mentoring …) 
  • Inhalte (z. B. unternehmensindividuelle Inhalte, Kuration von Standard-Lerninhalten, Zugriff auf externe Bibliotheken, Hybride Lernangebote, inklusive und barrierefreie Inhalte, …) 
  • Infrastruktur (z. B. Learning Hub/LXP, LMS, Digital Adoption Plattformen, ESN, …) 
  • Lernzeit/Budget (z. B. Vertrauenslernzeit, Lernzeitkonto, Slacktime, No Budget, Pitch um Budget, …) 
  • Events (Hackathons, Peer-to-peer-Lernevents wie Lean Coffe oder Barcamps, Öffentliche Events, Formale Events und Plattformen zum Lernen von Expert:innen, …) 
  • Formalstruktur/Governance (z. B. Vergütungssysteme, Arbeitszeitregelungen, Karrierepfade, Quality Gates für User Generated Content, …) 
  • Daten (z. B. Erfassung, Auswertung und Bewertung von Lernaktivitäten, Learning Analytics, Qualität der Lerndaten, Regulatorien und Vereinbarungen zur Datennutzung, selbstsouveränes oder zentrales Datenmanagement, …)  

Handelt es sich bei dem Thema Learning Ecosystem Ihrer Meinung nach um ein neues Thema oder ist es vielmehr ein altbekanntes Konzept, das nun mit neuem Namen wieder aufgegriffen wird? 

Learning Ecosystems gab es immer schon und wird es immer geben. Allerdings wird der Begriff seit vielen Jahren sehr unterschiedlich verwendet.  

Corporate Learning wurde früher oft weniger als „Ökosystem“ gesehen als heute. Die Etablierung des Begriffs ermöglicht einen sensibleren Umgang damit und schärft das Bewusstsein für die Fragilität von Lernaktivitäten im Unternehmenskontext. Für eine früher oft vorherrschende Sicht und Steuerung von „Lernen“ in Unternehmen (oft Push, fremdorganisiert, top-down, …) war der Begriff des „Corporate Learning Ecosystems“ deshalb vielleicht auch nicht notwendig. 

Wieso sollte sich ein Unternehmen mit dem Thema „Corporate Learning Ecosystem“ auseinandersetzen? 

Das Denkmodell „Corporate Learning Ecosystem“ macht sichtbar, besprechbar und bearbeitbar, wie Lernen in verschiedenen Feldern stattfindet. So wie wir bei der Untersuchung eines natürlichen Ökosystems einen Lebensraum unseres Planeten mit seinen Lebewesen und ihren Aktivitäten sowie seinen nicht-lebendigen Artefakten unter die Lupe nehmen, komplexe Abhängigkeiten beobachten und im Bewusstsein dieser Komplexität vorsichtige Eingriffe wagen können, so dient auch die Betrachtung eines Corporate Learning Ecosystem der Bewusstwerdung dieser Komplexität. Mit diesem Überblick entwickeln Unternehmen das Verständnis, dass gutes und wirksames Lernen im Unternehmen kein kausales Resultat einer Reihe von Optimierungen ist, sondern es sorgfältige Hypothesen, behutsame Experimente, klare Beobachtung der Veränderungen und Ziehen der vermutlich zielführenden Schlüsse braucht. Eine Auseinandersetzung mit Corporate Learning Ecosystems hilft, zu erkennen, wie Lernen die Strategie des Unternehmens unterstützt und wie durch Lernmöglichkeiten bisher nicht entdeckte Potenziale der Wertschöpfung für das Unternehmen und für die Gesellschaft gefunden und nutzbar gemacht werden können. So wird die Adaptivität und Zukunftsfähigkeit des Unternehmens gefördert. 

Konkreter: Mit dem Blick auf das Lernen der Mitarbeitenden in Corporate Learning Ecosystems kann erkannt werden, welche Bestandteile, Komponenten, Beziehungen, Lernräume etc. die Mitarbeitenden im Corporate Learning Ecosystem benötigen, um ihren Job sowohl ad hoc als auch dauerhaft und nachhaltig auszuführen oder sich in Zeiten des Fachkräftemangels durch Up- und Reskilling im Unternehmen weiterzuentwickeln.  

Was macht Ihrer Meinung nach ein effektives Learning Ecosystem aus? Worin unterscheidet sich dieses von einem ineffektiven Learning Ecosystem? 

Ein effektives Learning Ecosystem ermöglicht Mitarbeitenden, schnell, ressourcenschonend und nachhaltig benötigte Skills aufzubauen, anzuwenden und die Resultate zu reflektieren. Durch Rückkopplungsschleifen ‚lernt‘ das Learning Ecosystem und bleibt gleichzeitig stabil und anpassungsfähig. Lernen zu Fachthemen und Lernen zu Lernen funktioniert so gleichermaßen.  

Ein Learning Ecosystem wird durch in ihm stattfindende Lernaktivitäten geprägt. Diese entscheiden mit, ob ein Learning Ecosystem langfristig und nachhaltig ist.  

Eine interessante Überlegung wäre, wie nachhaltiges Lernen auf die Nachhaltigkeit des Learning Ecosystems auswirkt. Können wir sagen, dass ein durch extraktives Lernen (Konsumieren von Kursen) geprägtes Learning Ecosystem durch die verfügbaren Ressourcen (an Content, Trainer:innen, Inhalte-Ersteller:innen, …) begrenzt ist, während in einem durch inklusives Lernen oder Kreislauflernen (Teilen von Wissen und Erfahrungen, gegenseitige Unterstützung, Lernen durch Lehren) geprägten Learning Ecosystem Lernen dauerhaft, durch alle Beteiligten und mit gemeinsamem Gewinn möglich ist, nach dem bekannten Bonmot „Wissen ist das einzige Gut, das sich vermehrt, wenn man es teilt“

Funktionierende Learning Ecosystems sind sich ihrer Existenz, ihrer Fragilität und gegenseitigen Abhängigkeiten gewahr. Sie können durch Impulse von außen kreative Spannungen erzeugen und innovationsfördernd wirken, aber auch gestört werden und kippen. Dann benötigen sie Pflege, z. B. durch Entwicklungsmaßnahmen, die die Komplexität des Learning Ecosystems berücksichtigt und nicht auf einfache lineare Kausalketten zurückgreifen. 

Welches Potential sehen Sie zukünftig in dem Thema Learning Ecosystems? Welche Relevanz wird dieses in den kommenden Jahren erfahren? 

Corporate Learning & Development ist im Wandel. Die Wichtigkeit, Corporate Learning Ecosystems in den Blick zu nehmen und ihre Pflege als Handlungsprämisse für die Entwicklung von Unternehmen zu begreifen, wird uns immer bewusster.  

Darin liegen u. a. folgende Potenziale: 

  • Die Angebote im Zeitalter der Digitalität nutzen (z. B. gemäß Felix Stalder: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität) 
  • Möglichkeiten digitaler Plattformen (z. B. LXP, LMS, KI-unterstützte Systeme) und deren Auswirkungen darauf, wie wir lernen, bewusst untersuchen, bewerten und ggf. nutzen 
  • Überwindung nicht nur von Team- und Bereichsgrenzen, sondern auch von Unternehmensgrenzen hin zu einem gesellschaftlichen Lernen in übergreifenden Learning Ecosystems 
  • Mitarbeitende halten und gewinnen 
  • Adaptivität auf sich schnell wandelnde Marktanforderungen 
  • Digital verteiltes und internationales Arbeiten  
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